Transit-Ghettos im Bezirk Lublin: Piaski

Else Behrend-Rosenfeld berichtete am 12. April 1942 in ihrem Tagebuch, dass sich in der letzten Märzwoche das Gerücht verbreitete, eine neue Deportation stünde unmittelbar bevor. Unter den noch in München lebenden Jüdinnen und Juden entstand große Unruhe, da fast jeder Verwandte oder Bekannte gehabt hatte, die mit dem ersten Transport vom 20. November 1941 deportiert worden waren. Die Tatsache, dass niemals ein Brief oder eine Karte aus diesem Personenkreis München erreichte, stützte die Vermutungen, sie wären alle ermordet worden. Laut Behrend-Rosenfeld stellte man die Deportationsaufforderungen am 28. März 1942 zu. Zu diesem Zeitpunkt war sie in der Lagerleitung der „Heimanlage für Juden“ in Berg am Laim tätig. Mit 74 Bewohnern dieses Sammellagers wurde sie am 1. April in das Barackenlager Milbertshofen verbracht. Dort herrschte bereits drangvolle Enge: zu den 343 Münchnerinnen und Münchnern, die eine Deportationsaufforderung erhalten hatten, kamen weiter 433 Personen aus Schwaben hinzu.

Am Nachmittag des 3. April 1942 musste im Beisein einiger Gestapo-Beamter die Aufstellung zum Abmarsch der knapp 800 zum Abtransport bestimmten Personen geprobt werden. Zum Transportleiter bestimmte man Hugo Railing, der in der Leitung des Lagers Milbertshofen beschäftigt war. In den frühen Morgenstunden, etwa um 4 Uhr morgens, begann der Marsch zum Bahnhof. Else Behrend-Rosenfeld wurde von diesem Transport zurückgestellt, der späteren Deportation entging sie durch ihre Flucht in die Illegalität.

Hatte am Vortag der Abfahrt von München noch außergewöhnlich warmes Frühlingswetter geherrscht, so empfing die 989 Menschen dieses Transports (in Regensburg wurden noch 213 Personen aus dem dortigen Sammellager aufgenommen) bei ihrer Ankunft in Piaski eisige Kälte und Schnee. Piaski, eine Kleinstadt im Südosten von Lublin, an der Bahnlinie Lublin-Belzec gelegen, war vielen Münchner Jüdinnen und Juden nicht unbekannt. Seit im dortigen Ghetto 585 der mehr als 1.000 am 12. Februar 1940 aus Stettin deportierten Juden interniert wurden, gab es regelmäßige Hilfssendungen und rege Briefkontakte aus München. Unter den damals Deportierten befand sich auch der Stettiner Rabbiner Dr. Herbert Finkelscherer, ein Bruder des letzten Rabbiners von München Dr. Bruno Finkelscherer. Diese dort mehr als zwei Jahre im Ghetto lebenden Menschen wurden am 5. April 1942, einen Tag vor Ankunft des Transports aus München, wahrscheinlich in das Vernichtungslager Belzec deportiert und ermordet.

Das Ghetto Piaski bestand seit April 1941. Bis März 1942 bewohnten es neben den Juden aus Stettin vor allem polnische Juden. Nach einer Anweisung vom 17. März 1942 sollte „Piaski von polnischen Juden freigemacht und Sammelpunkt für die aus dem Reich kommenden Juden werden“. Etwa 5.000 polnische Juden deportierten die Deutschen am 26. März und am 11. April 1942 in das Vernichtungslager Belzec. Am 23. März erreichten ein Transport aus Mainz und Darmstadt, am 30. März einer aus Berlin, am 2. April und am 25. April je einer aus Theresienstadt das Ghetto Piaski; insgesamt wurden 5.466 Juden aus dem „deutschen Reichsgebiet“, aus Theresienstadt und Tausende aus der Slowakei dorthin deportiert.

Die Lebensbedingungen in Piaski waren schrecklich. Der Berliner Hermann Samter (geboren am 5. Dezember 1909 in Berlin, ermordet in Auschwitz) schildert in einem Brief vom 11. Mai 1942: „(...) Hier lebten seit zwei Jahren Stettiner (...) Hier herrscht der größte Schmutz und fürchterliche Not. Die Leute schrieben noch nach Wochen, dass sie noch nicht aus den Kleidern gekommen wären. Tagesration: 50 g Brot, 1/2 l Kaffee, 3/4 l Suppe (ohne Fett). Wer hier also nicht in die Arbeit kommt und dadurch mehr erhält, ist verloren. Kranke und alte Leute sind dem Hungertode preisgegeben! (...)“.

Die wenigen sanitären Anlagen des Ghettos waren in einem katastrophalen Zustand, die Grundversorgung mit Nahrung und Trinkwasser absolut unzureichend. Das Ghetto, bestehend aus kleinen, hauptsächlich eingeschossigen Holzhäusern, war nicht für 5.000 Personen ausgelegt. Zwischen 10 und 20 Menschen mussten sich in der Regel einen Wohnraum teilen. Von der einheimischen Bevölkerung trennte die Neuankömmlinge eine sprachliche, kulturelle und religiöse Barriere, Spannungen zwischen den polnischen Ghettobewohnern und den aus dem Ausland Kommenden waren vorprogrammiert.

Ende Mai 1942 wurde den Bewohnern der Transitghettos der Briefverkehr außerhalb des Lubliner Bezirkes untersagt. Bis zu diesem Zeitpunkt gelangten Berichte aus Piaski nach München. So schreibt Else Behrend-Rosenfeld am 24. Mai 1942: „(...) Von unseren Deportierten bekommen wir regelmäßige Nachrichten, sie sind wirklich nach Piaski gekommen, aber sie haben die Stettiner nicht mehr vorgefunden und konnten auch nichts über ihren Verbleib erfahren. Wir schicken, soviel wir können, aber es sind nur mehr Briefpäckchen im Höchstgewicht von einem Kilogramm erlaubt. [Ernst] Heilbronner schreibt mutig und schildert seine und der Gefährten Situation sogar hin und wieder mit einem Versuch zu scherzen. Er und alle arbeitsfähigen Männer arbeiten im Straßenbau unter sehr schweren Bedingungen und bei völlig unzureichender Ernährung. Ihre Koffer haben sie nicht erhalten. (...)“.

Fritz Sänger, Sprecher des Münchner Transports in Piaski und Mitglied des Judenrates, kämpfte für die Verbesserung der sanitären Verhältnisse im überfüllten Ghetto. Er erreichte die Instandsetzung des Ghettobades, wodurch die Ausweitung einer Flecktyphusepidemie verhindert werden konnte. Die eklatanten Mängel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und ausreichend Wohnraum, die unmenschlich harten Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeit im Straßenbau lassen erahnen, dass viele der aus München Deportierten den Sommer 1942 nicht überlebt haben. Zahlreiche Menschen brachten die Deutschen in umliegende Lager, wo sie im Meliorationsprojekten arbeiten mussten, viele verhungerten. Überdies gab es bis zur Liquidierung des Ghettos am 1. November 1942 regelmäßige Deportationen in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor. Ein Restghetto bestand in Piaski noch bis zum 1. März 1943. Zwischen 1.000 und 2.000 der letzten Ghettobewohner wurden bei der endgültigen Auflösung erschossen. Fritz Sänger wurde im Herbst 1942 in das nahegelegene Zwangsarbeitslager Sawin eingewiesen und dort bei der Trockenlegung der Sümpfe eingesetzt. Seine Spur verliert sich im November 1942 im Todeslager Sobibor. Es sind keine Überlebenden des Transports vom 4. April 1942 von München nach Piaski bekannt.