Aktion Reinhardt
Im Laufe des Jahres 1941 gingen die Deutschen an zahlreichen Orten Europas zur systematischen Vernichtung der Juden über. Nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erschossen Einsatzgruppen, Polizeibataillone, einzelne Wehrmachtseinheiten und einheimische Handlanger zigtausende sowjetische Jüdinnen und Juden. Durch diese Morde erhielt die so genannte Endlösung der Judenfrage einen enormen Radikalisierungsschub: In Auschwitz ermordete die SS im September erstmals „versuchsweise“ Häftlinge mit dem Giftgas Zyklon B. Ab Dezember 1941 tötete eine SS-Sondereinheit, die zuvor im Warthegau im besetzten Polen zur Tötung von Patientinnen und Patienten psychiatrischer Anstalten eingesetzt war, in Chełmo (Kulmhof) nahe Łodz die jüdische Bevölkerung aus der Umgebung, aber auch Sinti und Roma aus dem österreichischen Burgenland, in Gaswagen. Der Befehl zu den Tötungsaktionen war von Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei und des SD, erteilt worden. Himmler beauftragte schließlich am 13. Oktober 1941 den SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin Odilo Globocnik damit, die Juden in den fünf Distrikten des Generalgouvernements zu ermorden. Diese Mordaktion erhielt den Tarnnamen „Aktion Reinhardt“ und dauerte bis November 1943 an. Während dieser Zeit wurden 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden sowie 50.000 Sinti und Roma getötet. Um diese Pläne zu realisieren, ließen die Deutschen innerhalb kurzer Zeit die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka errichten. Bei der abschließenden „Aktion Erntefest“ erschossen die SS und das Polizeibataillon 101 am 3. November 1943 im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek sowie in den noch bestehenden Zwangsarbeitslagern Poniatowka und Trawniki mehr als 43.000 Jüdinnen und Juden.
An der „Aktion Reinhardt“ waren mehrere Institutionen und Akteure beteiligt. Zu einen war das der bereits genannte SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, der auf regionaler Ebene Initiativen zur Umsetzung der Massenmorde ergriff. Ab März 1942 räumte sein Stab unter SS-Sturmbannführer Herman Höfle in den Distrikten Lublin und Galizien, dann im gesamten Generalgouvernement und in den Bezirken Bialystok und Zichenau die Ghettos, stimmte die Deportationen in die Vernichtungslager ab und kümmerte sich um die Verwertung des geraubten jüdischen Eigentums. Ein weiterer Akteur der „Aktion Reinhardt“ war die Kanzlei des Führers unter ihrem Leiter Philip Bouhler, der die für die „Euthanasie“-Krankenmorde zuständige Zentraldienststelle T4 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin unterstellt war. Die Zentraldienststelle T4 führte Viktor Brack, Oberdienstleiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers. Nach der offiziellen Einstellung der Tötung kranker oder als lebensunwert eingestufter Menschen mit Kohlenmonoxid in mehreren Heil- und Pflegeanstalten im August 1941 wurden die Morde durch Hungerkost, gezielte Vernachlässigung oder überdosierte Medikamentengaben fortgesetzt.
Die Erfahrungen des SS-Personals, das bei der Tötung mit Kohlenmonoxid, bei den Leichenverbrennungen und in den Gaskammern der Aktion T4 tätig gewesen war, nutzten die Nationalsozialisten nun gezielt in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“. So hatte Kriminalkommissar und SS-Obersturmbannführer Christian Wirth als Büroleiter der T4-Tötungsanstalten Brandenburg, Grafeneck und Hartheim fungiert, ehe er ab 1941 Kommandant des Vernichtungslagers Belzec und ab 1942 Inspekteur der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ wurde. Anfang November 1943 leitete er die Ermordung der 43.000 Jüdinnen und Juden im Rahmen der „Aktion Erntefest“. Die SS-Männer der „Aktion T4“ führten nun den Judenmord mit größter Härte durch und bereicherten sich durchgängig am Eigentum der europäischen Judenheit, das ihnen bei deren Ermordung in die Hände fiel. Die SS-Männer im Lager hatten weitreichende Handlungsspielräume, um eine möglichst hohe Mordrate zu erzielen und nutzten diese selbstbestimmt und mit großer Effizienz.
Weitere Akteure der „Aktion Reinhardt“ waren die so genannten Trawniki-Männer. Auf Weisung Himmlers ließ Globocnik in Kriegsgefangenenlagern Soldaten der Roten Armee – meist handelte es sich um Ukrainer, Russen und ethnische Deutsche – anwerben, die man für einen Dienst bei den deutschen Besatzern für geeignet hielt. Sie wurden ab Herbst 1941 in Trawniki, einem kleinen Ort bei Lublin militärisch und ideologisch gedrillt. Aus dem Ausbildungsort leitet sich die Bezeichnung dieser Hilfstruppen aus. Etwa 5.000 Trawniki-Männer halfen bei den Ghettoräumungen im Generalgouvernement und dem Mord in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ oder gehörten Wachmannschaften in Zwangsarbeitslagern an. Obwohl viele von ihnen versuchten zu fliehen oder manche den jüdischen Opfern kleine Hilfsdienste erwiesen, so stellten sie doch das System der Judenmorde nicht in Frage und bereicherten sich ebenfalls an der Habe der Ermordeten.